Ich hatte das unglaubliche Privileg Anfang Oktober das weltweit größte Forschungsinstitut für Teilchenphysik zu besuchen. Im Rahmen eines Schülerprogramms konnte ich mir unter 2500 Bewerbern aus 120 Ländern einen von 36 Plätzen ergattern – als einzig deutsche Schülerin durfte ich eine Woche lang am CERN verbringen, an Vorlesungen, Workshops und anderen Aktivitäten teilnehmen und verschiedene Abteilungen besichtigen, darunter die ‚Antimaterie-Fabrik‘ und Elemente des Beschleuniger-Netzwerks.


Das englischsprachige Programm bietet Schüler*innen aus aller Welt einen näheren Einblick in das Geschehen am CERN – Gespräche mit Mitarbeiter*innen, von Doktorand*innen über promovierte Professoren bis hin zu Führungskräften; experimentelles und theoretisches Lernen vor Ort; und die Möglichkeit, sich international zu vernetzen.
Die Woche war eine intensive Erfahrung. Unser wunderbarer Koordinator Guillaume Durey hatte einen ausgeklügelten Zeitplan auf die Beine gestellt. Direkt nach Ankunft am späten Sonntagnachmittag hielt er eine bestärkende Willkommensrede und wir durften uns den Rest des Abends in Gruppen auf eine Schnitzeljagd quer über den Campus begeben.
Innerhalb kürzester Zeit habe ich mich unglaublich wohl gefühlt, Freundschaften geknüpft und mich gemeinsam mit meiner Zimmernachbarin im CERN-Hotel eingelebt.
Am nächsten Morgen haben wir erstmal ID-Karten bekommen, damit wir uns frei bewegen konnten, und Essenskarten mit einem großzügigen Guthaben für die CERN-Restaurants. Nach einer Einführungsvorlesung in die Rolle, die Ziele und den Aufbau des CERNs haben wir im Science Gateway einen Workshop zum Thema Elektronenstrahlen besucht. Am Nachmittag ging es zum Synchrocyclotron und zum Atlas Visitor Centre. In einer weiteren Vorlesung nach der Mittagspause durften wir uns mit Teilchenbeschleunigern befassen; es ging dabei abgesehen von ihrer Funktion und ihrem Aufbau besonders um den Beschleunigerkomplex des CERNs, die Grenzen an die die Physiker und Ingenieure aktuell Stoßen, und an die möglichen zukünftigen Projekte mit Blick auf den FCC (Future Circular Collider), der den berühmten LHC um mehr als das Dreifache in Größe übertrumpfen soll, oder CLIC, ein möglicher Compact Linear Collider.
Tag 3 war mindestens genauso spannend. Nach einer Vorlesung zur Einführung ins Standardmodell, haben wir uns LEIR und LINAC2 ansehen dürfen. Die Vorlesung hat mir die Welt der theoretischen Physik deutlich nähergebracht und diese etwas zugänglicher gemacht. Wir haben Sachverhalte behandelt, die in der Schule noch nicht einmal angeschnitten wurden – über welche Eigenschaften Teilchenverhalten bestimmt wird, woraus Hadronen zusammengesetzt sind, was es mit Spin auf sich hat und noch vieles mehr. Die Besichtigung des LEIRs war auf andere Art bereichernd, einen solchen Beschleuniger hatte ich noch nie in der Praxis gesehen, der tatsächliche Aufbau und die Technik hinter dem Experiment waren faszinierend und auch die Sicherheitsmaßnahmen, die uns erklärt wurden, waren Dinge, mit denen ich mich im Unterricht nie auseinandergesetzt hatte – beispielsweise die Betonwände, die um LEIR aufgestellt sind, um vor der Strahlung zu schützen, oder die Dosimeter des Personals.
Am Nachmittag gab es ein CERN Leute Bingo – wir sollten verschiedene Informationen aus den an unterschiedlichen Tischen sitzenden Mitarbeitern herausbekommen, ohne sie direkt zu fragen. Die Aktivität bot in erster Linie zwischenmenschlichen Kontakt zu Menschen, zu denen ich sonst nur bewundernd emporschaue, und einen sehr interessanten Austausch mit beeindruckenden Forschern. Das Spiel war völlig zweitrangig, es war eher ein Gesprächsimpuls. Der Austausch mit Dr. David Barney, dem Leiter des CMS-Detektors, und Dr. Jorge Villa-Vélez, einem Astrophysiker, die uns beide später noch begleiteten, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Abgesehen von der Wertschätzung und Bestärkung durch meine eigenen Vorbilder und dem Bildungsmehrwert, war es auch eine tolle Networking-Möglichkeit!
Im Anschluss ging es nach der Mittagspause direkt weiter mit einem Workshop zum Thema Teilchendetektoren, in dem wir Nebelkammern bauen und Theorien über das Beobachtete aufstellen durften, die ich im Anschluss auch vorgestellt habe. Die Teilchen so sichtbar machen zu können war aufregend und eine großartige praktische Verbindung zu der darauffolgenden Vorlesung zu Detektoren, mit besonderem Blick auf den Aufbau von Atlas und CMS.
Nach einigen Stunden Freizeit und dem gemeinsamen Abendessen hatten unsere Betreuer Jean-Pierre und Guillaume für uns einen Kinoabend in genau dem Vorlesungssaal, in dem die Entdeckung des Higgs-Teilchens von Fabiola Gianotti der Welt verkündet wurde, vorbereitet. Wir haben uns den Film ‚Particle Fever‘ angesehen, der sich um genau diese Entdeckung dreht. Es war surreal dort zu sitzen, wo sich damals die Physiker und Journalisten um Plätze gedrängt hatten.
Mittwoch startete besonders interessant mit einer Vorlesung zu den medizinischen Anwendungen von Teilchenbeschleunigern. Dozentin war Dr. Manjit Dosanjh von der University of Oxford, die sich für die Zugänglichkeit der Technologien besonders in Entwicklungsländern einsetzt und uns die Methoden umfangreich erklären konnte. Rückfragen waren dabei nicht nur erlaubt, sondern es wurde dazu ermutigt. Nachdem wir in der Pause noch in kleineren Gruppen Dr. Dosanjh befragen konnten, ging es direkt weiter mit einer Vorlesung zum Atlasprojekt. Danach sind wir mit dem Bus nach Frankreich gefahren, um uns CMS näher anzusehen, wo ein Ingenieur, der an dem Bau des Projekts mitgewirkt hatte, uns die begehbaren Bereiche zeigte. Weil der LHC aktuell läuft und die Umgebung daher auf wenige Kelvin gekühlt sein muss und, da der Beschleuniger außerdem strahlt, konnten wir über den CMS-Datenspeicher und Kontrollraum hinaus keinen näheren Blick auf das Konstrukt werfen. Nachmittags ging es dann zurück nach Genf in die „Antimatter Factory“, wo uns Milena Vujanovic Antimaterie und die Gewinnung am CERN erläuterte, und wir uns mit den Fragen, die sich gerade in dem Gebiet gestellt werden, beschäftigten. Direkt im Anschluss durften wir einen Blick in das Datenzentrum des CERNs werfen.
Tag 4 wurde unsere 36-köpfige Truppe in 6er Gruppen aufgeteilt, die jeweils an zwei von sechs vierstündigen Workshops teilnehmen durften, für die wir uns am Vortag entschieden hatten.
Mein absolutes Tageshighlight war der Theorieworkshop mit einer promovierenden Physikerin, Silke Van Der Schueren. Wir haben uns erneut mit dem Standardmodell auseinandergesetzt und gelernt, wie man Feynman Diagramme zeichnet. Danach haben wir uns Teilcheninteraktionen gewidmet, und versucht, diese durch Feynman Diagramme zu erklären und deren Resultate vorherzusagen. Dabei war es wichtig, viele Erhaltungssätze zu berücksichtigen. Die Lernatmosphäre war perfekt – wir konnten Fragen stellen, Fehler machen und über Ansätze diskutieren.
Mein zweiter Workshop konnte dem nicht ganz das Wasser reichen, aber das Experimentieren mit ELISA, einem kleineren Teilchenbeschleuniger, war auch aufregend, wir haben damit die Zusammensetzung verschiedener Münzen und Schmuckstücke durch ein Massenspektrometer analysieren können. Der Abend wurde damit verbracht, in Kleingruppen ein Video über unsere Zeit am CERN zusammenzuschneiden.
Der letzte Tag vor meiner Abreise war unserem großzügigen Sponsor gewidmet – Solvay. Sprecher des belgischen Chemieunternehmens stellten uns die Arbeit und Bedeutung Solvays in der Soda Ash Gewinnung vor und die Karriereaussichten beim Konzern. Nach einem kleinen Chemieexkurs durften wir einen letzten Workshop besuchen. Am Science Gateway haben wir mit Supraleitern experimentiert, über Einsatz und Forschung gesprochen, und uns mit der Idee schwebender Züge beschäftigt. Später gab es ein Q&A mit einem Theoretiker und eine letzte Ansprache unserer fantastischen Betreuer, sowie die Urkundenverleihung. Danach und währenddessen sind viele Tränen geflossen. Es war ein so unfassbares Erlebnis, ich würde am liebsten ewig bleiben. Ich wollte die Menschen genauso wenig wie den Ort verlassen. Obwohl es inhaltlich eine volle Woche war, hatten wir jeden Tag auch genug Freizeit, um Genf zu erkunden und echte Freundschaften zu schmieden, die jetzt über hunderte, wenn nicht tausende Kilometer hinweg reichen.
CERN ist ein magischer Ort. Die Atmosphäre, die Menschen, die Lage, die Forschung – einfach alles. Es ist wie eine kleine Stadt gleichgesinnter Forscher aus aller Welt.
Der Bewerbungsprozess – Motivation als oberstes Gebot.
Falls es nächstes Jahr erneut die Möglichkeit einer Teilnahme geben sollte, ist hier ein kleiner Überblick zum Bewerbungsprozess. Dieser war zwar recht umfangreich, aber gut zu bewältigen.
Um die entsprechenden Dokumente „freizuschalten“, mussten zuerst mindestens drei Tests zu verschiedenen Themen, mit denen sich am CERN beschäftigt wird, bestanden werden. Allesamt waren allerdings sehr machbar, da sie an entsprechende Erklärvideos anknüpfen und beliebig oft wiederholt werden dürfen. Um die Aufnahmechancen zu verbessern, ist es ratsam, alle sieben verfügbaren Videos zu bearbeiten. Danach sind in erster Linie formale Angaben gefragt, das letzte Zeugnis, Details zur Schule und zur Person. Besonderen Wert wird auf Mathe, Physik und Englischkompetenzen gelegt.
Außerdem gehört ein Empfehlungsschreiben einer Lehrkraft auch mit dazu.
Die zwei wichtigsten Elemente des Bewerbungsprozesses sind das Motivationsschreiben und das Bewerbungsvideo. Hierbei sollten Fragen zur Intention bei der angestrebten Teilnahme und den eigenen Beitrag zum Camp beantwortet werden, es galt besonders das eigene Interesse und wissenschaftliche Engagement zu zeigen. Neugier und Leidenschaft sind hier besonders ausschlaggebend. Es ist die Chance, den Veranstaltern die eigene authentische Persönlichkeit und rohe Begeisterung näher zu bringen – ich habe um Beispiel offen eingestanden, dass ich in keinem besonderen Physikclub bin, sondern mich viel lieber privat mit den Inhalten auseinandersetze, Veranstaltungen besuche und mich mit Literatur zu Themenbereichen, die mich interessieren, beschäftige.
Dieses Jahr war die Richtlinie für das Bewerbungsvideo sehr offen – es sollte ein naturwissenschaftliches Thema eigener Wahl abgehandelt werden. Ich entschied mich für das Higgs-Feld. In meinem auf eine Minute begrenzten Video habe ich die Theorie zuerst möglichst verständlich erklärt, und im Anschluss die Bedeutung erläutert. Es werden keine bahnbrechende Erkenntnisse erwartet, es geht vielmehr darum, die Begeisterung, Faszination und das grundlegende physikalische Verständnis auszudrücken.
Das Programm ist natürlich wählerisch, angesichts der überwältigenden Anzahl an Bewerber*innen, aber es steht einiges zu gewinnen.
Das aller wichtigste: es schadet nicht, es zu versuchen!
Autorin: Milla West (Q3)


















